Gedanken zur Firmen-Ethik
Zur normativ-kritischen Kompetenz philosophischer Ethik
Zum Begriff sittlicher Verbindlichkeit
Die philosophische Ethik versteht unter Handeln nicht ein beliebiges, sondern ein wissentlich-willentliches Tun oder Lassen. Alles Handeln gilt ihr mehr als die Abfolge bloßer Naturereignisse nach Maßgabe ihrer Gesetzmäßigkeit. Sie sieht Handeln sowohl von den artspezifischen endogen gesteuerten Automatismen bei Tieren, den Instinktbewegungen, unterschieden als auch von jenen vorbewußten (physiologischen und anderen) Prozessen oder unwillentlichen (unwillkürlichen) Bewegungen (von Reflexen, von dem durch äußeren Zwang oder durch Nötigung erfolgenden Tun oder dem bloßen Erleiden von etwas), deren man sich entweder gar nicht bewußt ist oder über die man keine Kontrolle hat. Zum Handeln im emphatischen Sinn des Wortes gehört es, (a) daß der Handelnde weiß, daß er diese Handlung tut, und (b) daß er sie deshalb tut, weil er sie als solche oder im Hinblick auf ein weiteres Ziel will. Stellt man aber Handeln als bewußtes und freiwilliges Tun oder Lassen vor, so wird es eo ipso dem Handelnden selbst zugerechnet, und zwar in dem präzisen Sinn, daß er als der dafür verantwortliche Urheber gilt. Für ein Handeln, für das man verantwortlich ist, kann man zur Rechenschaft gezogen werden. Zur Rechenschaft ziehen heißt, daß man sich Gründe nennen läßt, Gründe, die der Handelnde entweder schon vor seinem Tun mehr oder weniger klar und deutlich präsent hat oder über die er sich erst im nachhinein klarwerden muß, und zwar Gründe, durch die sein Tun oder Lassen als gelungen: als gut und richtig, oder aber als mißlungen: als schlecht, falsch und böse, erscheint.
Die Frage nach dem Gelingen oder Mißlingen eines Handelns kann sich auf verschiedene Aspekte richten. Es kann sich erstens um die sachliche Angemessenheit gegenüber beliebigen, jeweils vorausgesetzten Absichten: Zielen oder Zwecken, handeln. Dann spricht man von technischer, taktischer, strategischer oder zweckrationaler Richtigkeit bzw. Verbindlichkeit, und das entsprechende Tun oder Lassen heißt technisches, taktisches, strategisches oder zweckrationales Handeln. In diese Dimension gehören auch die konkreten Überlegungen, wie man in einer bestimmten Situation am besten Versuchspersonen gewinnt und wie man den gewonnenen Versuchspersonen die gewünschten Informationen entlockt. In der ersten Dimension geht es um begrenzte oder bedingte Verbindlichkeiten. Das Handeln gilt als richtig oder gut, weil es den jeweils angenommenen Absichten gerecht wird.
Die Frage nach der Verbindlichkeit eines Tuns oder Lassens kann sich aber auch auf die Dimensionen der Absichten selbst richten, und zwar zunächst und zweitens auf die Angemessenheit konkreter Absichten gegenüber einer Absicht zweiter Ordnung, entweder gegenüber dem natürlichen Interesse jedes Menschen am eigenen Wohlergehen (pragmatische Richtigkeit bzw. pragmatisches Handeln) oder auf die Angemessenheit gegenüber den herrschenden Sitten (soziale Richtigkeit) oder auch gegenüber den geltenden Rechtsvorschriften (rechtliche Richtigkeit). Hierher gehört auch die methodologische Grundfrage, ob gewisse Forschungstechniken (etwa Tarnen und Täuschen) für das Generalinteresse der Wissenschaft, objektive Erkenntnis zu gewinnen, notwendig, zureichend oder aber nur förderlich sind. Auch hier handelt es sich insofern um begrenzte oder bedingte Verbindlichkeiten, als das Tun oder Lassen nicht als solches, sondern nur unter der Voraussetzung von erherrschenden Sitten, den geltenden Rechtsvorschriften oder dem Interesse an objektiver Erkenntnis.
Von solchen Verbindlichkeiten und Formen des Handelns unterscheiden sich drittens sittliche Verbindlichkeit und sittliches Handeln durch die Aufhebung der Perspektive des Begrenzten und Bedingten. Sittlich heißt nicht jede normative Verbindlichkeit, sondern allein jene uneingeschränkte oder unbedingte Verbindlichkeit, kraft derer eine Praxis nicht bloß aufgrund ihrer Beziehung auf etwas anderes, sondern kraft derer sie für sich und als sie selbst auf ihren Sinn und ihre Verantwortbarkeit beurteilt wird. Dabei geht es sowohl um die „objektive“ Seite des Handelns, um die Gesetze, Sitten und Bräuche, um die Regeln, Praktiken und Institutionen, als auch um die „subjektive“ Seite, um die Vorsätze, Intentionen, Maximen und Charaktere. Ganz allgemein gesprochen: der Begriff der Sittlichkeit bezeichnet den Anspruch, daß nicht nur dieser oder jener Aspekt oder Ausschnitt menschlicher Praxis, sondern daß die menschliche Praxis als ganze vor das Forum der Vernunft: vor das Forum der Verbindlichkeit, der rationalen Argumentation und der Rechtfertigung gezogen werden soll.
Da es nicht nur willkürlich, sondern letztlich auch sinnlos wäre, Fragen der Verantwortlichkeit und Richtigkeit menschlicher Praxis aufzuwerfen und sie zugleich grundsätzlich auf die Dimension des Technischen und Pragmatischen oder auf die mehr oder weniger zufällig vorhandenen Gesetze und Sitten zu beschränken, bezeichnet Sittlichkeit einen unabweisbaren Anspruch an menschliche Praxis. Das menschliche Tun und Lassen erschöpft sich nicht darin, Funktion für etwas anderes zu sein; es will letztlich selbst richtig und sinnvoll sein.