Modell für eine Kunstschule der freien Malerei
erweitert zu einer Sinnes- und Bewußtseins-Intensivierung
innerhalb der künstlerischen Gestaltung
Zweck der Schule ist, ein künstlerisch pädagogisches Modell anzugehen, um sowohl die technisch-praktischen Fähigkeiten, als auch die individuellen Möglichkeiten der Absolventen – insbesondere umfassend in ihrem Sinnenbereich – zu entwickeln.
Im Ausblick auf die Zukunft und unsere Zeit, in der Auseinandersetzung von Technik und Mensch, auf der einen Seite hochqualifizierte Technik mit ihrem Zeitschnellauf, Information usw., fordert auf der anderen Seite den bewußten, sublimierten, in seien Sinnen hoch entwickelten Menschen, der fähig wird, die vielfältigen Möglichkeiten bewußt in sein Umfeld zu integrieren, in seinen Lebenslauf hineinzugestalten.
Diese Situation auf die Kunst und ihre Rolle innerhalb der sozialen Gestaltung der Zukunft bezogen, bedingt zunächst den Versuch, einmal den Unterschied zwischen vergangener Kunst und der Kunst unseres Jahrhunderts in den Blick zu rücken, die Frage, was unterscheidet die moderne Kunst von der Vergangenheit. Nehmen wir den temporalen Raum von der Romantik bis heute. Der alten Kunst liegt das mythische Bewußtsein zugrunde, das bis zum Ende des Mittelalters reicht. Jean Gebser drückt es so aus „die Welt des Mythos geht der Welt des Logos voraus, wie die Welt der Legenden unserer Welt der abstrakten Gedanken und wissenschaftlichen Systeme vorausgeht.“ In der Renaissance, ab dem 15. Jahrhundert, entwickelt sich in den folgenden 500 Jahren das an der Sinnesbeobachtung und dem rationalen Denken gebundene Gegenstandsbewußtsein, das Gebser „das mentale Bewußtsein“ nennt. Die Welt wird nicht, wie früher als Ganzes, sondern immer teilhafter, bruchstückhafter erlebt. Eine ungeheure Erweiterung der äußeren Erfahrung der Welt findet statt. Wie mit dem Mikroskop scheint alles betrachtet. Die Maschine ist das Symbol* des mentalen Bewußtseins, die eine vollständige Entäußerung und Hinausstellung eigener menschlicher Fähigkeiten darstellt. Das moderne Bewußtsein nennt Gebser „das integrale Bewußtsein“ (es ist vier-dimensional), weil es die größten Gegensätze in sich integriert.
Die moderne Kunst bemüht sich, aus der neutralen (drei-dimensionalen) Fixierung herauszukommen. Es ist der Sprung vom Rationalen ins Irrationale. Sie ist offen und multivalent. Ihre neuen Elemente sind Gänzlichung, Zeitfreiheit, Zerbrechen des Räumlichen und Systematischen, Meisterung der Bewegung, Verzicht auf jegliche Herrschaft und Macht, Überwindung der Ismen auf allen Ebenen. Grob aufgezählt könnte man sagen:
Alte Kunst #9; #9; ab Renaissance Moderne
myth. Bewußtsein #9; mentales Bewußtsein integrales Bewußtsein
Urbild #9; #9; #9; Abbild individuelles Urbild
nicht ästhetisch #9; rein ästhetisch überästhetisch
Kult #9; #9; #9; Kunst Praeligio
Hieraus wird erkenntlich, zunächst beim Kunsturteil, aber ebenso auf allen anderen wissenschaftlichen Ebenen, daß die Menschheit in den Jahrhunderten mehrfache Bewußtseinsstrukturierungen erfahren hat und heute wieder am Beginn einer neuen erfahrbaren Ebene steht, d.h. mit dem Einbruch der Zeit in unser Bewußtsein. Dieses Ereignis ist das große Thema unserer Welt. Als Realität, als Weltkonstante brach die Zeit eigentlich erst mit der Formulierung des vier-dimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums durch Einstein, also zu Beginn unseres Jahrhunderts in unser Bewußtsein ein. Relativitätstheorie, Quantentheorie, Wellenmechanik und Mutation sind die vier großen Eckpfeiler unserer heutigen Naturwissenschaften. Die Technik überbietet sich darin, den Raum immer mehr durch die Meisterung der Zeit zusammenschrumpfen zu lassen, indem sie große Entfernungen, sei es zeitlich durch Überschallflugzeuge, zusammenrückt, sei es die Entfernungen sogar auf einen angenäherten zeitlichen Nullpunkt, reduziert durch Radio und Fernsehen in der Kunst begegnen wir derselben Präokkupation. In der Malerei zersprengt die hereingelassene Zeit den Bildinhalt, formt ihn nach neuen Gesetzen wie bei J. Gris, Braque und Picasso usw., in der Dichtung eines Thornton Wilder oder F. Bruckner spielen die Szenen und Akte eines Schauspiels quer durch die Uhrenzeit hindurch und verschaffen der echten Zeit vier-dimensionale Ausdrucksmöglichkeiten. Es handelt sich um ein Hereinbrechen der vierten Dimension in die drei-dimensionale Welt.
So sagt Gebser weiter „ich habe keine Zeit – dieses Eingeständnis, diese Ohnmachtserklärung des europäisch-amerikanischen Menschen besagt zudem noch ein Weiteres; denn wer keine Zeit hat, hat auch keinen Raum. Er ist entweder zu Ende – oder er ist frei. Er ist zu Ende, wenn er nicht realisiert, was der Begriff „keine Zeit haben“ bedeutet: daß nämlich der Raum diese Zeit absorbiert hat; mit anderen Worten: daß alles erstarrt (die Hetze und Gehetztheit, die Leerlauf sind), oder auf der anderen Seite: daß die Zeit den Raum auflöst, weil sie als bloßer Teiler verwendet wird. Er ist jedoch frei, wenn er realisiert, daß „Zeit“ alle bisherigen Zeitformen mitnimmt. Nur die Anerkennung aller den Menschen mitkonstruierenden Zeitformen entrückt ihn der ausschließlichen Gültigkeit der mentalen Zeitform, schafft Distanz, befähigt ihn zu ihrer Integrierung.“
Der Mut, die prärationale, magische Zeitlosigkeit und die irrationale, mythische Zeithaftigkeit neben dem mentalen Zeitbegriff als wirkend anzuerkennen, ermöglicht den Sprung in die irrationale Zeitfreiheit. Diese ist nicht etwa ein Freisein von früheren Zeitformen, die ja jeden Menschen mitkonstruieren, sie ist zuerst einmal ein Freisein zu ihnen, Aus dieser Art Freisein, die aus der Konkretion und der Integration aller Zeitformen hervorgeht und als solche nur von einem Bewußtsein geleistet werden kann, das sich frei „über“ die bisherigen Zeitformen zu stellen vermag, kann eine bewußte Annäherung an den Ursprung erfolgen. Aus ihm, der nicht zeitgebunden ist, mutieren alle uns konstituierenden Zeitformen. Er liegt „vor“ aller Zeitlosigkeit, zeithaftigkeit und Zeit. Der Einbruch der Zeit in unser Bewußtsein ist das erste Anzeichen, das Initialthema der heute akuten „Bewußtseinsmutation“.
So finden wir bei dem Physiker Leopold Infeld die Aussage: „Die Gesamtheit der möglichen Ereignisse bildet eine vier-dimensionale Welt“, oder bei Walter Tritsch, der ausdrücklich darauf verweist, daß es ohne Berücksichtigung des Wertes „Zeit“ keine echte Struktur gibt. „Denn nur als Struktur können wir Zeit überhaupt erleben und nicht etwa erfassen oder begreifen“. Dabei ist aber der hier fallende Ausdruck „erleben“ nicht etwa vitalistisch zu verstehen wie etwa aus dem Werk von W. Tritsch hervorgeht, in dem erstmals auch soziologisch die „Struktur“ als Ausdruck des Potentiellen, Möglichen gefaßt wird. „Strukturen“, so führt Tritsch aus, „bestimmen nämlich nicht bloß die Gestaltung, nur ein jeweils einmalig Verwirklichtes, sondern die verschiedenen Möglichkeiten der Verwirklichung. Und genau das ist es: das Mögliche, also das virtuell (bzw. Potentiell) Gegenwärtige und nicht bloß das Zeitgebundene, einmal Vorhandene, das uns heutigentags interessiert. Darin unterscheidet sich unsere Sehart von der der Morphologen und Kulturmystiker, von der der Gestaltgläubigen und Schicksal-Intuitionisten aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, und darin zeigt sich auch die Sprengung jedes bisherigen, jeweils von einer Standort Perspektive räumlich und zeitlich bedingten Weltbildes“.
So gilt auch für die neue Soziologie jene qualitative Akzentuierung, die durch das Qualitativ-Potentielle hindurch das Raum-Zeit freie „Ursprüngliche“ durchscheinen läßt. Das Heimliche oder künftig Mögliche wird in der Überwindung des bloßen „Nur-Jetzt“ und des quantitativen Augenblicks als gegenwärtig gewertet; eine durchaus das zeitquantitive, zeitfixierte, perspektivische Denken überwindende, aperspektivische Realisationsweise, die auch in der Soziologie das „Ganze“ anstrebt, für dessen bewußtseinsmäßige Realisierung die Entquantifizierung der Zeit Voraussetzung ist.
Grundsätzlich ist dabei festzustellen: der Mensch als Ganzes mehrfach strukturiert. Da wir heute auch die mental-rationale Struktur überblicken, ohne sie mit der irrationalen und prärationalen zu verquicken, ist es einleuchtend, daß wir zumindest potentiell eine überdeterminierte Struktur gewonnen haben, die wir als irrational in ihrer Dimensionierung (vier-dimensional) bezeichnen, und deren Wesen es ist, daß in ihr alle anderen Strukturen bewußt integriert werden.
Ganzheit ist nur dort, wo vorzeitliche Elemente und räumlich Größen synäretisch zusammengefaßt sind. So erscheint die Zeit als intensivierbarer Faktor und als Energie. Zeitbezogenes Denken ist zeitqualitatives Denken, als werterfüllte und wertsetzende Periodenfolge historischen (= gestalteten) Werdens. Die neu in den Menschen eintretende Kraft ist keine Macht; sie macht ihn nicht mächtiger, aber sie soll ihn wahr machen; sie intensiviert die Bewußtwerdung, hebt ihn aus der Materie und psychischen Gebundenheit heraus.
Der durch die Zeit gekrümmte Raum ist die einzige reale Grundlage, auf der sich ein vier-dimensionales Koordinatensystem verwirklichen läßt. Die einfache Kugel ist bloß dreidimensional, erst die sich bewegende Kugel ist vier-dimensional, und nur die Durchsichtigkeit gewährleistet die aperspektivische Wahrnehmung. Diese vier-Dimensionalität der durchsichtigen Kugelfläche wird in der Folge noch von entscheidendem Wert für den vier-dimensionellen Charakter beispielsweise der heutigen Malerei sein.
Jede Adaption, ja jede Realisierung einer vierten Dimension kann nur dann weltbildend sein, wenn sie nicht als eine nur zusätzliche Dimension betrachtet wird, sondern als eine integrierende. Mit anderen Worten: wird sie lediglich als Mehr-Dimension betrachtet und angewendet, so ergibt sich nur eine nochmalige Raumerweiterung, die aber nur weltzerstörend wirken kann, Die vierte Dimension der aperspektivischen Welt muß dem Bewußtsein als integrale Funktion, als ….. dienen. Aus dem hier vorgestellten, verständlicherweise nur angedeuteten, ideellen Hintergrund (der sich in anderen Zusammenhängen differenzierter darstellen läßt) ergibt sich nun das anzustrebende pädagogische Konzept.
Die amerikanische Kunstkritikerin S. Sontag kommt in ihrem Buch „Kunst und Antikunst“ zu ähnlichen Konsequenzen. Sie sagt: „Unsere Kultur beruht auf dem Übermaß der Überproduktion. Das Ergebnis ist ein stetig fortschreitender Rückgang der Schärfe unserer sinnlichen Erfahrung. Sämtliche Bedingungen des modernen Lebens – sein Überladenheit – bewirken eine Abstumpfung unserer sensorischen Fähigkeiten. Heute geht es darum, daß wir unsere Sinne und neue Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, intensiver zu sehen, zu hören, zu fühlen. Ein Kunstwerk, dem man als Kunstwerk begegnet, ist ein Erlebnis, nicht aber eine Aussage oder eine Antwort auf eine Frage. Kunst handlet nicht nur von etwas, sie ist etwas. Ein Kunstwerk ist ein Teil der Welt, nicht bloß ein Text oder ein Kommentar über die Welt.“ Dies bedeutet den schöpferischen Prozeß, sowohl des Kunstwerkes, als wie auch des Betrachters.
Das Programm der aufzubauenden Schule, die nicht nur für angehende Künstler gedacht ist, sondern für weitere Bereiche und Berufsgruppen, wie Wirtschaft, Technik, Pädagogik, Politik, Heilberufe und Laien usw., stellt als erstes den fundamentalen Aufbau der einzelnen Zeitstrukturen in den Vordergrund (siehe hierzu den Auszug der synoptischen Tafel). Auf diesem Fundament bauen sich alle weiteren Fächer auf; mit Schwerpunkt der prozessualen Praktiken.
Der zu erteilende Unterricht gliedert sich in folgende Fächer auf:
1. Kunstgeschichte
2. Farbenlehre: prozessual-phänomenal
3. Farbenlehre: bewußtseinsstrukturell – historisch
4. Technik: Aquarell – Öl – Mischtechnik – Ausdruckmittel
elementares Zeichnen
5. Psychologisch-reflektierend auf die eigene individuelle
Struktur zur Aufweckung und Intensivierung der
Sinnesschulung nach Möglichkeit auf verschiedenen
Kunstebenen wie Musik, Sprache, Tanz
6. Philosophie, den individuellen Prozeß annähern zum Universellen
7. Als weitere Möglichkeiten sind geplant:
periodisch wissenschaftliche Fächer wie Medizin,
Physik und Soziologie hineinzubringen sowie um
sich beweglich und informatorisch zu erweitern, im
Austausch zweimonatiges Studium eines Künstlers im
In- oder Ausland.
8. Abschlüsse: Da die Schule sich selbst im Programm prozessual-
integrierend sieht, bietet sie primär aufbauende
oder erweiternde Abschlüsse für andere Studien-
zweige oder Berufsbereiche an.
Da die Schule jetzt erst aufgebaut wird, kann sie noch nicht das volle Programm bieten.
Literatur-Angaben:
Jan Gebser: Ursprung und Gegenwart
Die Fundamente der aperspektivischen Welt,
Manifestationen
Werke von Leopold Infeld, Arthur March, E. Minkowski, Einstein, Portmann, W. Tritsch, Max Brod u.a.
Künstlerische Ebene: Kandinsky, Klee, Malewich, Tapies, Gerard Wagner, Antonio Calderara, Susan Sontag, Cezanne