Zur Herausforderung philosophischer Ethik durch die psychologische Forschung
Ob wir zeitgenössische oder vergangene Gesellschaften, ob wir agrarische oder industrialisierte, demokratische oder totalitäre Gesellschaften betrachten: überall finden wir eine Gemeinsamkeit. Der Mensch sieht sich in seinem Tun und Lassen weder durch Triebe und Bedürfnisse vollständig determiniert noch dem persönlichen Gutdünken überlassen. Das menschliche Handeln steht vielmehr unter mannigfachen normativen Bestimmungen.
Die Menschen kennen Begrüßungsformeln, Tischsitten und Verkehrsregeln, Verhaltensbestimmungen für Ehe und Familie, für die Wirtschafts- und Arbeitswelt, für das Gesundheitswesen, den Strafvollzug und nicht zuletzt für die politischen Entscheidungsprozesse. Mit einem Wort: die Menschen handeln im Rahmen einer (geschichtlich-gesellschaftlich gebildeten) normativen Lebenswelt.
Dort, wo die normative Lebenswelt, die überkommenen Verhaltensformen, Lebensweisen und Institutionen sowie die sie tragenden Gründe, die Selbstverständlichkeit ihrer bisherigen Geltung verlieren und eine neue, methodisch gesicherte Begründung erforderlich wird, dort wird philosophische Ethik relevant.
Der Verlust selbstverständlicher Geltung kann mannigfache Gründe haben. Er kann zum Beispiel durch eine Veränderung der empirischen (wirtschaftlichen, sozialen, politischen) Lebensbedingungen, durch Kenntnis anderer Gesellschaften und ihrer unterschiedlichen normativen Lebenswelt oder auch – in pluralistischen Gesellschaften – durch gesellschaftsinterne Wertkonflikte hervorgerufen sein. Dadurch kommt es zu sittlicher Unsicherheit, vielleicht sogar zu sittlicher Orientierungslosigkeit. In einer solchen Situation sucht die normative philosophische Ethik, von der Idee eines sinnvollen, eines vernünftigen und humanen Lebens geleitet, auf methodischem Weg und ohne die letzte Berufung auf politisch-soziale und religiöse Autoritäten als solche oder auf das von alters her Gewohnte und Bewährte allgemein verbindliche Aussagen über das gute und gerechte Handeln.
Angesichts der Konkurrenz verschiedener Wert- und Normvorstellungen unternimmt es die philosophische Ethik, die Konkurrenz – im Unterschied zum ethischen Relativismus – zu entscheiden, sie – im Gegensatz zum ethischen Dezisionismus oder ethischen Subjektivismus – nicht beliebig bzw. nach Maßgabe der bestehenden ideologischen oder realen Machtverhältnisse und auch nicht aufgrund eines „trockenen Versicherns“ subjektive Evidenz (aufgrund eines Wertfühlens oder einer intuitiven Werteinsicht), vielmehr durch begriffliche Analyse und durch methodische Argumentation zu entscheiden. Dabei geht man – zumindest implizit – im Gegensatz zum ethischen Skeptizismus von der These aus, die Konkurrenz sei in der Tat wenigstens teilweise begrifflich-argumentativ entscheidbar.
Gerade die neuere philosophische Ethik, die Diskussion um den Utilitarismus und um seine Alternative, Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß, oder um das Universalisierungsprinzip.
Seit Aristoteles hat das Wort „ethisch“ zwei methodisch unterschiedliche Bedeutungen. Es bezeichnet sowohl die Objektebene: sittliche Grundsätze und sittliche Praxis, als auch die Metaebene: die das Sittliche analysierende, reflektierende und begründende Wissenschaft: die philosophische Ethik. Es dient allerdings der Klarheit, wenn man nur in bezug auf die Wissenschaft vom „ethisch“, in bezug auf ihren Gegenstand aber von „sittlich“ spricht.
Während es der psychologischen Forschung letztlich um die unvoreingenommene und unbeschränkte methodische Wahrheitssuche gegenüber ihrem Gegenstand, dem Menschen, geht, steht das Zusammenleben unter Prinzipien, die von der wechselseitigen Achtung der menschlichen Würde und von der Idee der Gerechtigkeit bestimmt sind und die jeglicher Forschungstätigkeit eine entsprechende prinzipielle Grenze setzen.
In dieser Situation unternehmen es die folgenden Überlegungen, das Diskussionsfeld von seiten philosophischer Ethik etwas abzustecken: Inwiefern kann man aus philosophischer Perspektive von sittlich illegitimen Forschungspraktiken sprechen? Gibt es Bedingungen, unter denen diese Praktiken trotz ihrer sittlichen Bedenklichkeit, nämlich aufgrund konkurrierender sittlicher Gesichtspunkte angewandt werden dürfen?
Die Überlegungen konzentrieren sich bewußt auf einen einzigen Fragenkomplex, in der (grundsätzlichen oder unter bestimmten Bedingungen gültigen) sittlichen Erlaubtheit der kontroversen Forschungspraktiken. Zwei weitere Probleme, die die sittliche Verantwortung psychologischer Forschung betreffen, müssen hier übergangen werden: erstens die Frage, ob eine psychologische Forschung überhaupt sittlich vertretbar ist, wenn sie von der methodischen Prämisse eines „konditionalen Determinismus“ bestimmt ist und zu einer zunehmenden, tendenziell totalitären Verhaltenskontrolle führt; zweitens die Frage, ob eine Welt, in der es wissenschaftliche Psychologie, in der es überhaupt Wissenschaft gibt, „humaner“ als eine Welt ohne Wissenschaft ist.