Gedanken zur Firmen-Ethik
Zur normativ-kritischen Kompetenz philosophischer Ethik
Philosophische Ethik als Prinzipienforschung
Seit mehreren Jahren läßt sich weltweit eine wachsende Beschäftigung der Philosophie mit Fragen der Moral, der Gesellschaft und der Politik beobachten. Unter dem Stichwort „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ soll die Frage nach dem guten und gerechten Leben im persönlichen, sozialen und politischen Bereich, soll die Frage nach dem sittlich richtigen Handeln und nach der gerechten politischen Grundordnung wieder philosophisch gestellt werden, um die Frage weder allein den empirischen Wissenschaften noch bloß dem Streit der Parteien und politischen Schriftsteller zu überlassen. Mit diesem neuerwachten Interesse der Philosophie verbindet sich der Anspruch, nicht bloß gegenüber den Wissenschaften: ihren Grundbegriffen und Methoden, sondern auch gegenüber dem persönlichen, sozialen und politischen Handeln eine normativ-kritische Kompetenz zu besitzen, ein Anspruch, der angesichts der gegenwärtigen Orientierungs- und Legitimationsschwäche fortgeschrittener Industriegesellschaften höchst willkommen ist.
Der von manchen Philosophen erhobene Anspruch auf normativ-kritische Kompetenz läßt sich allerdings nur in einer modifizierten und ohne Zweifel auch eingeschränkten Form einlösen. Die Philosophie bemüht sich seit ihrem Ursprung bei den Griechen um die Erforschung der Gründe sowohl für die natürliche als auch für die soziale Welt. Genauer gesagt, sucht sie deren erste Gründe auf und unterzieht sie einer begrifflich-argumentativen Analyse. Und zwar erforscht sie jene ersten Gründe, die nicht bloß faktisch, sondern grundsätzlich erste Gründe sind; Philosophie erforscht die Prinzipien.
Das Prinzip verantwortlicher Praxis, das schlechthin letzte Kriterium oder die Grundnorm menschlichen Tuns und Lassens, nennen wir im allgemeinen Sittlichkeit; unter der Perspektive persönlichen Handelns betrachtet, sprechen wir auch von Moralität, unter der Perspektive des Zusammenlebens auch von (politischer) Gerechtigkeit (von der Gerechtigkeit als Rechtsidee, nicht auch als Tugend). Die erste Aufgabe der Philosophie in bezug auf menschliche Praxis ist deshalb die methodische Klärung und Begründung von Sittlichkeit in ihren beiden Aspekten von Moralität und Gerechtigkeit. Nur im Durchgang durch diese Aufgaben kann die Philosophie dazu beitragen, normative Standards und Rechtfertigungsgründe zu bestimmen.
Während sich die philosophische Ethik also zunächst mit der Begründung von Prinzipien beschäftigt, geht es im konkreten sittlichen Leben um ganz andere Fragen. Einerseits will man wissen, worin genau das sittliche Handeln besteht, andererseits, ob Verstöße dagegen der Person bzw. der politischen Gemeinschaft (voll) zugerechnet werden können oder nicht. Entsprechend interessiert man sich in bezug auf die erwähnten psychologischen Forschungspraktiken einerseits dafür, ob sie tatsächlich sittlich bedenklich sind und gegebenenfalls welche sittlich unbedenklichen Praktiken es gibt, und andererseits, inwieweit bisher vorgekommene, eventuell auch zukünftige Verstöße den psychologischen Forschern – sei es bestimmten Individuen, sei es der Forscherkommunität – angelastet werden können oder ob sie – etwa aufgrund von Unwissenheit, von äußerem Zwang usw. – nicht oder nur teilweise verantwortlich gemacht werden können.
Die Situation der philosophischen Ethik ist übrigens nicht anders als die der Philosophie überhaupt. Genausowenig wie eine philosophische Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie direkt untersucht, welche Gegenstandserkenntnis: welches naturwissenschaftliche oder sozialwissenschaftliche Theorem, richtig und welches falsch ist, genausowenig stellt sich die philosophische Ethik unmittelbar die Frage, welche Handlung oder Handlungsregel (Norm, Gesetzt, Verfassung) unter sittlicher Perspektive geboten, verboten oder erlaubt ist; noch weniger wirft sie die Frage auf, wie sich das als sittlich Erkannte auch realisieren läßt.
Gewiß ist im Gegensatz zu einer direkt unternommenen Normenbegründung die genuin philosophische Frage weder die aktuellere noch die nützlichere oder heilsamere Frage. Es handelt sich aber um die systematisch fundamentalere Frage. Denn die philosophische Ethik stellt die Frage, ob diese Denkart und Beurteilungsweise, nämlich menschliche Praxis unter der Perspektive des sittlich Gebotenen und Verbotenen zu betrachten, überhaupt sinnvoll ist (weil man diese Denkart als widerspruchs- und aporiefrei denken und weil man dafür Prinzipien und Kriterien aufstellen kann) oder ob es sich dabei um eine – sei es schöne, sei es ärgerliche – Illusion handelt.
Wenn die philosophische Ethik aber nicht direkt auf die sittlichen Probleme unseres Lebens antwortet, dann kann sie auch in Sachen sittlicher Gebote und Verbote psychologischer Forschung nicht unmittelbar als Ratgeber auftreten. Die erste Aufgabe philosophischer Ethik ist nicht sittlicher Rat (ethical advice). Vielmehr gilt es erst zu klären, was sittliche Verbindlichkeit überhaupt heißt und wie sie sich von anderen Arten der Verbindlichkeit (technischer, pragmatischer, methodologischer oder rechtlicher Natur) unterscheidet; die philosophische Ethik sucht Gründe dafür, daß es so etwas wie sittliche Verbindlichkeit gibt, und zwar sucht sie Gründe, die von den wechselnden empirischen Randbedingungen unabhängig sind, sie sucht Vernunftsgründe oder Prinzipien; in diesem Zusammenhang fragt sie dann allerdings auch, ob sich das Prinzip der sittlichen Verbindlichkeit in einen höchsten Maßstab sittlich gebotener, verbotener und erlaubter Praxis operationalisieren läßt.
Mit der letzten Frage ist schon angedeutet, daß die philosophische Ethik im Durchgang durch die Prinzipienforschung auch zu einem Stück normativ-kritischer Kompetenz gelangen kann. Wenn die psychologische Forschung wissen will, welche ihrer Praktiken sittlich unbedenklich sind, dann braucht die philosophische Ethik gegenüber diesem Interesse nicht vollständig zu kapitulieren. Zwar kann sie – wenigstens für sich allein – keinen Kodex sittlicher Richtlinien begründen. Sie kann aber die Grundlagen und letzten Kriterien für einen solchen Kodex klären helfen.