KÜNSTLICH ODER NATÜRLICH?
Die teilweise mit einer verbiesterten Vehemenz geführte Diskussion darüber, ob natürliche Substanzen den künstlichen vorzuziehen sind, leidet von vorneherein unter einem schwammigen Sprachgebrauch und waberigen Definitionen. Hierbei werden exakte Begriffe aus der Chemie oder Pharmazie in unzulässiger Weise verallgemeinert oder gar völlig unsinnig gebraucht.
Das Wort künstlich hat viel mit Kunstwerk zu tun, also einer Sache, die es in dieser Form, in diesem Umfeld in der Natur nicht gibt. Ganze Landschaften sind künstlich angelegt, dennoch wird wohl kaum jemand allein deswegen von einer Kunstlandschaft sprechen. Insgesamt ist dieser Begriff nicht eindeutig definiert, die Wissenschaft lebt jedoch von der Genauigkeit.
Der Begriff synthetisch wird in der Regel mit künstlich gleichgesetzt, ist jedoch eindeutiger belegt und umschreibt praktisch immer einen Stoff oder Vorgang, den es in dieser Form in der Natur nicht gibt. Typisch dafür sind synthetische Kleiderstoffe (Diolen, Polyester, usw.).
Aber: Synthetisiert der Chemiker etwas, dann ist damit das Zusammenfügen verschiedener Substanzen gemeint; im engeren Sinne handelt es sich bei diesen Stoffen um natürliche Elemente, im weitesten Sinne können jedoch auch Moleküle gemeint sein. Es lässt sich daraus nicht ablesen, ob die jeweils gemeinte Synthese ein natürlicher oder unnatürlicher Prozess ist.
In der aktuellen Auseinandersetzung werden die Begriffe synthetisch und künstlich gleichgesetzt. Grundsätzlich stehen wir auf dem Standpunkt, dass natürliche Substanzen den künstlichen vorzuziehen sind. Es ist sogar die Frage, ob der Mensch überhaupt synthetische Substanzen in Massen herstellen sollte, da deren (Wechsel-)Wirkungen und ökologische Folgen nicht überschaubar sind. Letztendlich fingert man damit in einem Jahrmillionen alten chemischen Gleichgewicht herum und hat keine Ahnung von den langfristigen Effekten.
Dennoch ist ein Naturprodukt deswegen noch lange nicht harmlos oder gar per Definition gesund. Auch Arsen, Fliegenpilz und Kolibakterien sind Naturprodukte.
Andererseits gelten manche Naturprodukte wie z. B. Hormone als unnatürlich – was ebenfalls Unsinn ist -.
Die gegenwärtige Polarisierung von künstlich oder natürlich geht allzu oft an der Sache vorbei und folgt lediglich dem derzeitigen Modetrend. „Bio“, „Öko“ und „Natur“ verkauft sich nun mal gut und etliche Produkte sind bereits so ökologisch, ökologischer geht`s nicht mehr …
So verwendet die häufige Frage, ob „natürliche Vitamine“ den „künstlichen“ vorzuziehen sind, unklare Begriffe – und jede Beantwortung geht daher haarscharf an der Sache vorbei. Der Unsinn, der mit den Terminologien betrieben wird, grenzt teilweise an bewusste Irreführung. Letztendlich werden klare Begriffe ideologisch „verbastert“ – was leider alte Tradition hat -, um angebliche Qualitäten zu unterstreichen, die in der Form nicht existieren.
Vitamine sind ein Naturprodukt, wie eine Kartoffel auch. Ein synthetisches Vitamin entspräche einer synthetischen Kartoffel – und was bitte soll das sein? Künstliche Mineralien, wie z. B. Selen, wären sogar ein göttliches Wunder, weil der Mensch (bis dato) keine Elemente herstellen kann.
Aber es gibt durchaus Unterschiede im Herstellungsverfahren (bzw. in der Aufzucht der Kartoffel) die möglicherweise zu unterschiedlichen Wirkungen führen. Grundsätzlich aber handelt es sich bei allen Lebensmitteln – egal ob Kartoffel oder Vitamine – um natürliche Substanzen, also Stoffe, wie sie auch von der Natur verwendet werden.
Natürliche Moleküle sind z. B. das Vitamin C oder das Hormon Östrogen, aber auch giftiges Arsen und andere Schwermetalle wie Blei und Cadmium sind natürliche Substanzen.
Der Mensch ist jedoch in der Lage Moleküle (nicht Atome) herzustellen, die es in der Natur so nicht gibt. Nur diese Moleküle verdienen die Bezeichnung künstlich oder synthetisch. Dann aber bekommen die Moleküle auch einen Kunstnamen.
Im Bereich der Textilien hat der Mensch sich mittlerweile an die diversen Bezeichnungen gewöhnt: Baumwolle ist Natur, Diolen ist Kunststoff. Beide haben Vor- bzw. Nachteile, Mischungen sind gang und gäbe – und über die immense Palette weiterer Substanzen in Textilien ist damit nichts gesagt.
Da es sich bei synthetischen Produkten um eine eigene Erfindung handelt, kann man sie patentieren lassen und wird damit für die Industrie interessant. Ob die synthetische Substanzkreation (z. B. Medikament) mehr schadet als nutzt wird bei der Patentvergabe nicht hinterfragt. Insofern sind Hinweise auf Patente in diesem Zusammenhang generell Nullaussagen.
In vielen Fällen ist eine exakte Abgrenzung zwischen künstlich oder natürlich schwer. Bei der bekannten Acetylsalicylsäure (ASPIRIN) wurde ein natürliches Acetyl (Essig) mit einem natürlichen Salicyl (Birke) gekoppelt. Zwar handelt es sich bei den Einzelbestandteilen um Naturprodukte, aber das fertige Molekül gibt es in dieser Form in der Natur nicht.
In letzter Konsequenz ist jede Haushaltsküche eine Art Labor, in der die ursprüngliche (molekulare) Form von Nahrungsmitteln verändert wird. Um dennoch eine Unterscheidung zu ermöglichen, definiert an „künstliche Moleküle“ in aller Regel als Substanzen, die man gezielt in ihrer Form verändert hat (um z. B. in den Genuss des Patentrechts zu kommen).
Nun gibt es bestimmte Verfahren, um diese oder jene natürliche Substanz zu gewinnen. So kann man Vitamin C aus Obst synthetisieren oder aus Glucose herstellen. Der Kostenunterschied ist gewaltig, dennoch erhält man in beiden Fällen identische Moleküle Vitamin C. Würde man das reine Vitamin C einer Zitrone neben das Vitamin C aus dem Glucoseverfahren legen – es wäre kein Unterschied feststellbar, weder im Aussehen noch in der Wirkung. Wohl aber im Preis.
Was in Wahrheit oftmals verglichen wird, ist reines Vitamin C und Vitamin C mit Begleitstoffen (Flavonoide). Hier vergleicht man Kühe mit Kälbern. Da die Wirkung der Flavonoide auf Vitamin C durchaus allgemein bekannt ist – es steigert deren Bioverfügbarkeit um ein Vielfaches -, fügen manche Hersteller die Bioflavonoide dem reinen Vitamin C wieder zu.
Im Nebensatz: Mit „natürlichem“ Vitamin C, wie z. B. in Acerolaprodukten, könnte man den heute empfohlenen Bedarf kaum decken, denn es enthält lediglich ca. 7% Vitamin C (oft wird noch „synthetisches“ Vitamin C hinzugefügt) – und ist teurer.
Entscheidend dürfte der Umstand sein, dass es bisher keinen handfesten Beweis dafür gibt, dass der Organismus einen Unterschied zwischen „natürlichem“ oder „synthetischem“ Vitamin C macht. Jedenfalls so lange man von reinem Vitamin C spricht.
Vergleicht man hingegen die verschiedenen Verfahren der Vitamin-E-Gewinnung, dann sind Qualitätsunterschiede, die sich physiologisch auswirken, feststellbar. Vitamin E besteht aus nur drei Elementen, nämlich Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff. Im räumlichen Aufbau hat dieses Vitamin jedoch eine Vielfalt, die gar nicht mehr in Worte gefasst werden kann: Von mehreren Milliarden Vitamin E-Molekülen ist keines wie das andere. Bei der einen Herstellungsart sind alle Vitamin E-Moleküle gleich; bei einem anderen Verfahren entsteht die auch in der Natur vorkommende Vielfalt. In diesem Fall wurde ein Unterschied in der Wirkung festgestellt.
Aber alles andere als eindeutig: Denn mal wirkt das „gleichförmige“ Molekül besser, mal das „vielfältige“.
Auf den Punkt gebracht, ist es eine pure Verkaufsmasche, wenn man mit den Begriffen „natürlich“ oder „biologisch“ so umgeht, als ob sie für sich schon Qualität verheißen würden. Suggeriert wird dabei die angebliche Überlegenheit nicht-industrieller Produkte. Das ist – sorry – Kundenverarschung, denn praktisch alles wird industriell bearbeitet. Andernfalls könnte es sich kein Mensch mehr leisten.
Es ist vergleichbar mit der Joghurtherstellung. Niemand wird ernsthaft behaupten, dass Joghurt ein Kunstprodukt ist, obwohl in den Verkaufsregalen viele verschiedene Sorten angeboten werden und alle industriell gefertigt sind.
Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen beziehen sich übrigens auf die „einfache“ industriell gefertigte Substanz, in der bei den Krankenhäusern/Instituten üblichen, pharmazeutischen (reinen) Qualität. Natürlich wird dabei gelegentlich festgestellt, dass diese oder jene Darreichungsform (zum Beispiel Ascorbinsäure und Flavonoide) der Monosubstanz überlegen sind. Dennoch beruhen die Erkenntnisse der Mikronährstoff-Forschung fast ausnahmslos auf industriell gefertigten Substanzen – allein schon aus Kostenerwägungen. Vitamine, die man z. B. aus Obst extrahiert („natürlich“), sind nämlich teilweise extrem teuer oder gar mit Vorsicht zu genießen. So enthalten bestimmte ölige Extrakte zwar viel Vitamin E, aber die ölige Basis neigt zur Oxidation, wodurch das Produkt möglicherweise eher schadet als nützt. „Natürliches“ Vitamin C ist in Reinform extrem teuer, als Extrakt (z. B. Acerola) zwar preiswerter, aber immer noch kostbar. Hinzu kommt dass vor allem natürliche Substanzen oftmals verunreinigt sind. Zwar überwacht der Staat bestimmte Grenzwerte, aber sie beziehen sich auf deutsche Dosierungsempfehlungen.
So bewegen sich die Verunreinigungen von preiswertem Vitamin C (oft ausländische Importe) zwar innerhalb der gesetzlich zulässigen Grenzen, aber man geht dabei von der DGE-Dosierempfehlung (75 mg/täglich) aus. Folgt man den jüngeren Empfehlungen (3.000 – 15.000 mg), dann sieht das schon anders aus.
Die Unterscheidung nach künstlichen oder natürlichen Vitaminen ähnelt im Regelfall einer Diskussion über einen schwarzen Schimmel.
Vor allem im Bereich der sekundären Pflanzeninhaltsstoffe (Heilpflanzen; Gemüsekonzentrate) wird man sogar vergeblich nach „künstlichen“ Produkten suchen. Man kann sie entweder überhaupt nicht „künstlich“ herstellen oder nur mit enorm viel Aufwand.
Fazit: Bereits die Frage, ob natürliche Nährstoffen den „synthetischen“ vorzuziehen sind, ergibt – außer bei Vitamin E – keinen Sinn. Bezieht man sich auf das Herstellungsverfahren, dann lässt sie sich nicht allgemein beantworten und muss von Fall zu Fall entschieden werden.
Im Nebensatz:
Bringt man die Diskussion synthetische/natürliche Vitamine auf den Punkt, dann bleiben nur noch wenig eindeutige Fakten:
Man kann letztendlich nur das Produkt (z. B. das Vitamin-C-Molekül von Hersteller XY) untersuchen, denn – es liegt auf der Hand – kein Hersteller wird Details über seine Herstellung preisgeben. Das fällt unter Betriebsgeheimnis.
Fast alle Untersuchungen basieren auf marktüblichen industriell gefertigten Substanzen.
Tatsache ist ebenfalls (gerichtlich festgestellt in einem Kartellverfahren, bei dem die betroffenen Firmen verurteilt worden sind), dass drei europäische große Pharmaunternehmen 90% des Vitaminhandels (Rohstoffe) beherrschen. Sogar US-Firmen kaufen ihre Rohstoffe in Europa, verarbeiten diese in den Staaten – und wir importieren sie wieder aus den USA.
Es ist vielmehr fraglich, woher die heutzutage notwendigen riesigen Mengen an „natürlichen Vitaminen“ eigentlich kommen sollen.
BIOLOGISCH
Auf einer anderen Ebene bewegen sich z. B. Gemüse aus biologischem Anbau. Zwar bleibt auch hier die Kartoffel eine Kartoffel, also ein Naturprodukt, aber die unterschiedliche Behandlung führt zu anderen Qualitäten, sowohl des Produktes selbst als auch bezüglich es ökologischen Kreislaufs.
Allerdings sind auch hier eindeutige Aussagen schwierig. So unterscheidet sich die Bio-Kartoffel möglicherweise nur geringfügig von der Kartoffel des konventionellen Anbaus, wenn man sich auf herkömmliche Parameter (wie Trockensubstanz, Eiweißanteil, Vitamingehalt, Nitratgehalt usw.) beschränkt. Das ändert sich jedoch, wenn man andere Werte wie z.B. die Energiewerte miteinander vergleicht. Biokost zeichnet sich beispielsweise durch höhere Reduktionskapazitäten aus, d. h., sie enthalten mehr energiereiche Elektronen.
Fazit: Begriffe wie „Bio“ und „Natur“ werden derzeit sehr oft missbräuchlich genutzt und sind für sich gesehen noch keine Qualitätsgarantie.
NATUR ÜBER ALLES?
So sanft sich die Naturheilmethoden oder die ganzheitliche Medizin auch gibt – im Umgang mit der Natur hapert es. So wird gerne übersehen, dass deren Protagonisten vor lauter „Natur“ zum Raubbau anstiften. Manche Produzenten betonen sogar die Überlegenheit ihrer wild wachsenden Rohstoffe und ignorieren, dass der steigende Bedarf der industriellen Nationen schon längst zur Gefährdung mancher Art geführt hat. Wilder Ginseng gilt in Nordkorea bereits als bedrohte Art. Die Zahl der Moschushirsche ist drastisch zurückgegangen (Moschus wird u. a. in etlichen homöopathischen Rezepturen verwendet).
Die unkritische Akzentuierung von „Natur“ ist letztendlich kontraproduktiv: 80% der in Europa gehandelten Heilkräuter stammen aus der Wildnis. TRAFFIC, ein Artenschutzprogramm des World Wide Fund of Nature (WWF), warnt bereits vor den Folgen.
STANDARDISIERUNG
Im Bereich der Heilpflanzen (Extrakte) macht es eher Sinn sich mit dem Begriff natürlich auseinander zu setzen, dafür taucht hier eine andere Problematik auf.
So können bereits die Rohstoffe (z. B. Ginkgoblätter) je nach Land, Erntezeitpunkt, Wetter, Boden usw. in ihrem Wirkstoffgehalt sehr stark schwanken, von der unfreiwilligen Befrachtung mit Herbiziden, Pestiziden u. a. mal zu schweigen. Um einen gleichmäßigen Wirkstoffgehalt zu erhalten, ist zusätzlicher Aufwand erforderlich, der mit dem Begriff STANDARDISIERUNG umschrieben wird: Jetzt kann der Produzent einen bestimmten Gehalt (z. B. 25% Anthocyane) garantieren. Das macht sich zwangsläufig im Preis bemerkbar, ist es jedoch u. U. wert.
Doch auch hier gibt es Haken und Ösen, denn die Standardisierung bezieht sich immer auf eine bestimmte Substanz, der man die Wirkung zuschreibt. Das kann stimmen – muss aber nicht sein.
NEBULÖSER MARKT
Es ist kaum ein Markt so undurchsichtig wie der der Pillen und Pülverchen. Das fängt bereit mit der Abgrenzung von Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel und Lebensmittel an. Erschwert wird dies durch neue Produktgruppen wie z. B. „Functional Food“ oder abenteuerliche Wortschöpfungen, die nichts bedeuten.
Die sehr stark vertretene Pharmafront und deren zahlreiche Interessenvertreter werfen dabei ebenso fleißig mit Nebelgranaten wie die Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln. Die Unkenntnis des Verbrauchers wird gelegentlich geradezu schamlos ausgenutzt, und überzogene Darstellungen gehören inzwischen schon fast zum guten Ton.
Leider bestechen viele Hersteller vor allem durch ihre „juristischen Qualitäten“ für Propagandazwecke und weniger durch fachliche oder pharmakologische.
Beispiele:
*Es ist juristisch völlig korrekt, wenn ein Hersteller auf seinem Produkt z. B. 500 mg Magnesium angibt, auch wenn kein einziges Molekül es Produkt für den Menschen verwertbar sein sollte. Entscheidend für die Bioverfügbarkeit ist jedoch der elementare Anteil, und er kann nur noch ein Bruchteil sein.
*Es ist rechtlich auch nicht anfechtbar, wenn ein Produzent z. B. 100 mcg Selen angibt, von denen jedoch nur die Hälfte überhaupt angerechnet werden kann. Selen ist nämlich immer an eine Trägersubstanz gebunden (z. B. Selenmethionin), und bei diesen und ähnlichen Angaben ist es „üblich“, das Gewicht von Selen und seinem Träger anzugeben.
Andere Hersteller beziehen sich wiederum nur auf den elementaren Anteil, d. h., der Gesamtgehalt wird erst gar nicht angegeben. Vorsicht also bei Preisvergleichen!
Es gibt immer wieder Angebote, bei denen man sich nur wundern kann. Mal zahlt man DM 420,–, mal DM 7,– für (umgerechnet) 1 g Coenzym Q10. Der erste Preis ist unverschämt hoch, der zweite jedoch unverständlich niedrig.
Coenzym Q10 kostet im Großhandel pro Kilo etwa DM 3.000,– bis DM 5.000,–;
1 g kostet also DM 3,– bis DM 5,–.
Berücksichtigt man die weiteren Verarbeitungs- und Vertriebskosten, die erheblich sind und den Verkaufpreis vervielfachen (!), dann wäre ein Endverbraucherpreis irgendwo zwischen DM 20,– und DM 40,– pro Gramm noch als normal anzusehen. DM 420,– pro Gramm sind absurd teuer; DM 7,– jedoch verdächtig preiswert.
Man hüte sich dabei vor Milchmädchenrechnungen: Zwar kosten viele Inhaltsstoffe nur Pfennige, aber die Verarbeitung zum Endprodukt (Verkapselung, Abfüllung, Dosen, Etiketten usw.), Vertrieb, Werbung u. v. a. m. lassen die Kosten explodieren. Legt man den Kilopreis im Großhandel zu Grunde, so mag der Inhaltsstoff eines Produktes zwar nur DM 5,– betragen. Bis dieses Produkt jedoch auf dem Ladentisch steht, kostet es z. B. DM 80,–. Dabei mag sogar noch sehr knapp kalkuliert worden sein.
Es verhält sich ähnlich wie ein neuer DM 60.000,– Wagen, der nur DM 20.000,– kosten soll: Wer würde da nicht stutzig werden?
Völlig undurchsichtig kann es bei den Heilpflanzen werden. Hier muss der Konsument sehr genau lesen. Bezieht der Hersteller seine Angaben auf die Pflanze (z. B. Ginsengwurzel) oder einen Extrakt (Konzentration?) oder den eigentlichen Wirkstoff (das wären bei Ginseng die Ginsenoide) oder macht der Hersteller womöglich gar keinen nachvollziehbare Aussage dazu?
Aber auch wenn man etwas Ahnung von der Sache hat und Inhaltsangaben zu deuten weiß, ist man vor „Beschiss“ nicht sicher. Wobei jede Nation gewissermaßen eigene Gesetzeslücken nutzt. So ist es in Deutschland bei vielen frei verkäuflichen Heilpflanzen (Johanniskraut, Baldrian) schon fast üblich, dass sie nicht wirken. Das geht auch nicht anders: Laut Gesetz fallen praktisch alle wirksamen Dosierungen unter das Arzneimittelgesetz. Folglich wurde in einer Untersuchung festgestellt, dass es in Deutschland nur ein einziges Johanniskrautpräparat mit einer wirksamen Dosierung gab – und das war rezeptpflichtig.
Andere Länder, anderer „Schmu“: Zwar dürfen in den USA wesentlich höhere Dosierungen als in Deutschland frei verkauft werden, aber dafür ist in den US-Produkten oft nicht drin, was auf den Etiketten draufsteht. In einem Test der Los Angeles Times (8/98) enthielten von den untersuchten Johanniskrautpräparaten nur 20% genau das, was auf dem Etikett angegeben war.
Ein sehr beliebtes Spiel ist der Hinweis auf ein oder mehrere Patente. Das klingt gut und bedeutet unter Umständen weniger als nichts. Generell kann man auf ein Naturprodukt wie z. B. ein Vitamin, ein Hormon oder Kuhmilch kein Patent erwerben. Wohl aber kann man ein bestimmtes Herstellungsverfahren patentrechtlich sichern lassen. Für sich gesehen hat es für den Konsumenten im Regelfall keinerlei Bedeutung, wie etwas hergestellt wird – solange das Ergebnis identisch ist.
Überspitzt formuliert: Wenn es darauf ankommt einen Nagel in die Wand zu hauen, dann kann man dies einfach, schnell und preiswert mit einem Hammer erledigen oder mittels eines hoch komplizierten, sündhaft teueren Gerätes, das patentiert ist. Im Patentverfahren wird nicht geprüft, ob die „Erfindung“ irgendeinen Segen für die Menschheit darstellt. Der größte Blödsinn ist schon patentiert worden.
Es ist sogar für Fachleute oft schwierig raffinierte pseudo-wissenschaftliche Dichtung (Werbeaussagen) von Wahrheit zu unterscheiden. Dem Laien, dem die Fakten oftmals nicht zugänglich sind, hilft nur ein sehr kritischer Blick auf die Wortwahl:
Lobeshymnen wie „sofortiger Erfolg“, „einmalig“, „geheimnisvoll“ usw. sind Worthülsen. Hinweise auf wissenschaftliche Untersuchungen sollten zumindest überprüfbar sein. Es ist schon ärgerlich genug, dass viele wissenschaftliche Untersuchungen von dubiosen Quellen kommen oder allzu einseitig ausgelegt werden und im Grunde nichts wert sind. Waberige Aussagen wie „kosmische Kräfte“, „blutreinigend“, „befreit von Giften“ usw. sind mit Vorsicht zu genießen.
Behauptungen aller Art, die sich auf irgendeine Erkenntnis beziehen, die angeblich nur diese Firma hat oder nur dieses Produkt berücksichtigt, sollte man in aller Regel gleich wieder vergessen. Es gibt im wissenschaftlichen Bereich der NEM kein „Geheimwissen“. Entweder ist es allgemein bekannt, dass dieses oder jenes so und so wirkt – oder unbewiesen.
Allheilmittel, die angeblich jedem und/oder bei jeder Krankheit helfen, gibt es nicht und wird es wohl auch nie geben. (Nicht zu verwechseln mit allgemeinen Stärkungsmitteln, wie z.B. Ginseng. Stärkung ist nicht gleich Heilung.)
Man hüte sich vor Fern-, Schnell-, Gut- oder gar Laiendiagnosen aller Art! Nicht umsonst haben Fachärzte eine 12-jährige Ausbildungszeit hinter sich – und sind dennoch nicht gegen Irrtümer und Fehldiagnosen gefeit.
In Sachen Heilung mögen auch an sich hervorragende Ärzte irgendwann am Ende ihres Lateins und Selbsthilfe angekommen sein. Aber in Sachen Diagnose hüte man sich vor falschen Propheten.